Wenn ich mich abends abschminke und (kritisch) in den Spiegel schaue, sehe ich mich. „Mich“ mit 38, mit Falten auf meiner Stirn und grauen Haaren an den Schläfen. Seltener hingegen sehe ich mich als Mutter, Frau, Freundin, Tiernärrin und ambitionierte Gärtnerin.
Weshalb empfinde ich es als so schwierig, Dinge so zu nehmen wie sie nun mal sind (und immer schon waren)? Gerne würde ich den „Zauber der Vergänglichkeit“ akzeptieren und im Moment leben ohne mich über die eigene Endlichkeit zu grämen. Vielleicht kann ich, können wir, die Japaner als Vorbild nehmen. Mit Wabi Sabi gelingt es ihnen die perfekte Unvollkommenheit im Leben zu begrüßen und sogar zu zelebrieren.
Wabi – während das Wort bis zum 14. Jh mit Elend, Einsamkeit und Trostlosigkeit verknüpft wurde, erlangte es im Laufe der Zeit einen gänzlichen neuen Stellenwert in der Gesellschaft Japans. Statt mit Armut, begannen die Menschen es mit der Unabhängigkeit von materiellen Gütern und der tiefen Verbundenheit zur Natur zu verknüpfen. Es wurde zum Gegenentwurf von Perfektionismus und Prunksucht.
Sabi – dieses Wort steht für Patina, Reife und geschmackvolle Einfachheit. Durch die Verbindung der beiden Worte Wabi Sabi entstand ein ästhetisches Konzept, eine Weltanschauung die eng mit dem Zen-Buddhismus verwoben ist.
Nichts ist jemals fertig, alles ist vergänglich
Laut der buddhistischen Lehre ist unsere Existenz von drei Hauptmerkmalen geprägt: Vergänglichkeit, Leiden und Leere. Wie die Jahreszeiten, ist auch unser Leben vergänglich und von Geburt über Krankheit bis zum Tod von Leid geprägt. Die Leere bezieht sich auf das individuelle Selbst. Denn anders als in der westlichen Kultur, versteht die östliche Welt uns Menschen als Teil des Kosmos, in dem wir eins mit der Natur sind. Der Einzelne steht weder über den Anderen, noch über Mutter Erde. Stattdessen sind wir alle miteinander verbunden und gehen gemeinsam durch Höhen und Tiefen. Wir scheitern und wachsen an unseren Fehlern.
Erst wenn wir diesen Gedanken akzeptieren und mit dem Herzen verstehen, können wir gelassener werden und die Augen für die kleinen, subtilen Dinge schärfen. Sei es der duftende Kaffee, der uns hilft aus den Federn zu kommen oder die Maise auf dem Apfelbaum vor unserem Fenster. Für mich persönlich war es die Karte einer lieben Freundin, die mich daran erinnert hat, dass keine WhatsApp dieser Welt die Nähe eines geliebten Menschen ersetzen kann.
Wildnis ist ok, Wildnis ist Natur, Natur ist wir
Ein Wabi Sabi Garten ist ein Wohlfühlort, an dem wir sein dürfen wie wir sind – perfekt unperfekt. Ein Paradoxon, welches verdeutlicht, dass weder die Idee eines englischen Rasens, noch ein komplett verwilderter Garten dem Wabi Sabi Prinzip entsprechen. Vielmehr geht es darum, im harmonischen Dialog mit der Außenwelt, also auch dem Garten zu existieren. Ein Wabi Sabi Garten lädt dich ein, auf subtile Art Einfluss zu nehmen und zu beobachten, wie er sich von alleine entwickelt. Das braucht Geduld oder eben eine neue Form der Gelassenheit. Sicher ist, Vögel, Insekten und andere Tiere werden es dir danken.
„Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt“
In einer Zeit, in der das Chaos permanent von Außen auf uns einzubrechen droht, kann der Gedanke den eigenen Garten „loszulassen“ beängstigend wirken. Die Kontrolle abzugeben (ohne dabei den gesamten Lebensentwurf in Frage zu stellen) kann jedoch wirklich befreiend wirken. Das letzte Jahr hat uns gelehrt, dass wir eigentlich nichts wirklich beeinflussen können. Während manche Menschen es bereits verinnerlicht haben, so fällt es mir nach wie vor schwer gelassener durchs Leben zu gehen. Neben mehr Yoga hilft mir der Garten, mich auf die Natur zurückzubesinnnen und ab und an Inne zu halten. Mein Weg zum Wabi Sabi Garten hat gerade erst begonnen und ich hoffe, dass diese Grundsätze mir helfen nicht davon abzukommen:
In diesem Sinne – wenn schon mehr, dann Wabi Sabi.
Deine erdhummel.
Quelle: Lepple, A. (2020) , Mein Wabi Sabi Garten – respektvoll gestalten, achtsam genießen, Eugen Ulmer KG, Stuttgart